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Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 04.08.2009
Aktenzeichen: 1 B 197/09
Rechtsgebiete: ARB 1/80, FreizügG/EU, RL 04/38, VwGO
Vorschriften:
ARB 1/80 Art. 7 | |
FreizügG/EU § 6 Abs. 5 | |
RL 04/38 Art. 28 Abs. 3 | |
VwGO § 80 Abs. 5 |
Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen Beschluss
OVG: 1 B 197/09
In der Verwaltungsrechtssache
hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 1. Senat - durch die Richter Göbel, Prof. Alexy und Dr. Bauer am 04.08.2009 beschlossen:
Tenor:
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen - 4. Kammer - vom 08.06.2009 wird - mit Ausnahme der darin enthaltenen Streitwertfestsetzung - aufgehoben.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Ausweisung und Androhung der Abschiebung im Bescheid des Stadtamts der Antragsgegnerin vom 01.12.2008 wird wiederhergestellt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren bewilligt; ihm wird Rechtsanwalt M. zur Vertretung beigeordnet.
Gründe:
A.
Der 1983 in Bremen geborene Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger. Er ist im Besitz einer Niederlassungserlaubnis. Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts steht ihm ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 zu. Er ist mehrfach straffällig geworden. Zuletzt wurde er durch Urteil des Landgerichts Oldenburg wegen gemeinschaftlich schweren Raubes in Tateinheit mit gemeinschaftlicher räuberischer Erpressung und gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Diese Strafe verbüßt er gegenwärtig. Mit Verfügung vom 01.12.2008 wies ihn die Antragsgegnerin für vier Jahre aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aus und drohte seine Abschiebung aus der Strafhaft an; zugleich wurde die sofortige Vollziehung der Ausweisung und der Androhung der Abschiebung angeordnet. Seinen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung hat das Verwaltungsgericht mit dem angefochtenen Beschluss zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers.
B.
Die Beschwerde ist begründet.
I.
Nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO ist das Oberverwaltungsgericht auf die Prüfung der Gründe beschränkt, die der Antragsteller innerhalb der gesetzlichen Frist zur Begründung der Beschwerde dargelegt hat. Der Antragsteller hat sich im Wesentlichen darauf konzentriert, das Vorliegen schwerwiegender Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Frage zu stellen. Zu einem weitergehenden Vortrag bestand kein Anlass, weil das Verwaltungsgericht solche Gründe für die Ausweisung hat ausreichen lassen. Es hat nämlich "Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG mit "zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit" im Sinne des § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU, Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, die sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (RL 04/38) gleichgesetzt. Unter dieser Voraussetzung ist auch die Annahme zwingender Gründe der öffentlichen Sicherheit Gegenstand der Überprüfung im Beschwerdeverfahren.
II.
Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs.
1.
Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist gegenwärtig zweifelhaft, ob die Ausweisung des Antragstellers mit Art. 28 Abs. 3 RL 04/38 vereinbar ist.
a.
Ob sich türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei haben, auf diese für Unionsbürger geltende Bestimmung berufen können, bedarf, wie das Verwaltungsgericht nicht verkannt hat, der Klärung durch den Europäischen Gerichtshof (vgl. Beschluss des Senats v. 22.07.2008 - 1 B 266/08 - NordÖR 08,547 = BeckRS 2008, 38129 mit ausführlicher Wiedergabe des Streitstandes). Inzwischen haben der VGH Baden-Württemberg (Beschluss v. 22.07.2008 - 13 S 1917/07 - InfAuslR 2008, 439) und das VG Berlin (Beschluss v. 04.09.2008 - VG 21 A 49.08 - InfAuslR 2008,440) den Europäischen Gerichtshof um eine Vorabentscheidung dieser Frage ersucht; die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in diesen Rechtssachen (C-371/08 - X - und C-420/08 - Y - ) steht noch aus.
b.
Das Verwaltungsgericht hat diese Frage als nicht entscheidungserheblich angesehen, weil die Verurteilung des Antragestellers zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten auch die Voraussetzungen eines "zwingenden Grundes für die öffentliche Sicherheit und Ordnung" nach § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU erfülle. Nach dieser Vorschrift "können" zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit - von der öffentlichen Ordnung ist in § 6 Abs. 5 FreizügG/EU nicht die Rede - nur dann vorliegen, wenn der Betroffene rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt worden ist oder andere, hier nicht einschlägige Voraussetzungen gegeben sind. Schon aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt sich, dass die Verurteilung mit dem genannten Strafmaß allein notwendig, aber nicht hinreichend für die Annahme zwingender Gründe ist. Es bedarf deshalb einer weitergehenden besonderen Begründung, warum im Einzelfall zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit gegeben sind (VGH Baden-Württemberg, Beschluss v. 29.09.2008 - 13 S 2380/07 - InfAuslR 2008, 439 m.w.Nwn.).
Dabei ist § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU so auszulegen, dass der Verlust des Freizügigkeitsrechts mit Art. 28 Abs. 3 RL 04/03 vereinbar ist. In diesem Zusammengang stellt sich die Frage, wie der Begriff der öffentlichen Sicherheit in Art. 28 Abs. 3 RL 04/38 zu verstehen ist. Fraglich ist insbesondere, ob damit unter Ausschluss gemeinkrimineller Akte allein die äußere und innere Sicherheit des Staates, letztere im Sinne des Bestandes des Staates und seiner Einrichtungen sowie des Überlebens der Bevölkerung, gemeint ist (in diesem Sinne mit beachtlichen Gründen z. B. VGH Baden-Württemberg, Beschluss .v. 29.09.2008, a. a. O.). Diese Frage ist in Rechtsprechung und Literatur ungeklärt und bedarf daher gleichfalls der Entscheidung durch den Europäischen Gerichtshof (BVerfG, Kammerbeschluss v. 25.08.2008 - 2 BvR 2213/06 - EuGRZ 2008, 633 mit ausführlicher Wiedergabe des Streitstandes in Rn 20). Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb eine Entscheidung des OVG Nordrhein-Westfalen, in der die auf diese Frage gestützte Zulassung der Berufung abgelehnt worden war, wegen Missachtung der Vorlagepflicht nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG i. V. m. Art. 234 EG aufgehoben.
Die bezeichnete Rechtsfrage hat das Verwaltungsgericht zu Unrecht vernachlässigt. Sie bedarf im Hauptsacheverfahren der Vorabentscheidung durch den Europäischen Gerichtshof, wenn sie bis dahin nicht in einem anderen Verfahren entschieden worden ist. Der Ausgang des Rechtsmittelverfahrens ist daher gegenwärtig offen.
2.
Unter diesen Voraussetzungen überwiegt das private Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung von Ausweisung und Abschiebung. Sein möglicherweise bestehendes Aufenthaltsrecht, für das eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht, würde nämlich unwiderbringlich für vier Jahre vereitelt, wenn er zunächst in die Türkei zurückkehren müsste. Das Risiko, dass der Antragsteller, wenn er für die Dauer des Rechtsmittelverfahrens in Deutschland verbliebe, obwohl er möglicherweise kein Aufenthaltsrecht hätte, erneut Straftaten begeht, wiegt demgegenüber geringer, denn ihm lässt sich in der gleichen Weise begegnen, wie dies bei Straftätern mit deutscher Staatsangehörigkeit nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafe der Fall ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 3, 52 Abs. 2 GKG.
Die Entscheidung über die Prozesskostenhilfe folgt aus § 166 VwGO i. V. m. §§ 114, 121 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Ende der Entscheidung
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